NEE-Geschäftsführer, Peter Westenberger, hat in einem Gastbeitrag im "derFahrgast", dem Magazin des Fahrgastverbands PRO BAHN, eine Einschätzung zur Stellung des Schienengüterverkehrs im Koalitionsvertrag gegeben:
Der Güterverkehr vor der schienenfreundlichen Wende?
Der Fahrgastverband PRO BAHN arbeitet in vielen Themenbereichen eng mit dem Netzwerk Europäischer Eisenbahnen (NEE) zusammen. Das NEE ist der Verband der DB-unabhängigen Güterbahnen. Zu den NEE-Mitgliedern zählen zurzeit 92 private, regionale und internationale Unternehmen aus dem Schienengüterverkehr und seinem direkten Umfeld. Das NEE setzt sich für die Erhöhung des Anteils der Güter ein, die klimafreundlich von den Bahnen befördert werden. Das Netzwerk fordert fairen Wettbewerb auf der Schiene sowie zwischen Schiene und Straße. Im Gastbeitrag gibt NEE-Geschäftsführer Peter Westenberger eine Einschätzung zur Stellung des Schienengüterverkehrs im Koalitionsvertrag.
u den Kuriosa des 177-seitigen Koalitionsvertrages von SPD, Grünen und FDP zählt ohne Zweifel das Kapitel Güterverkehr auf Seite 51, denn es umfasst nur fünfeinhalb Zeilen. Die innere Logik hinter diesem Abschnitt, der sich abgesehen vom ersten Halbsatz ausschließlich mit dem Güterverkehr auf der Straße befasst und ob seiner Kürze den Eindruck vermittelt, im Gütertransport gäbe es für die Ampel nicht viel zu tun, ist jedoch eine andere. Dort spiegelt sich der innere Aufbau der Programmarbeit von Bündnis 90/Die Grünen, die zuvor ähnlich strukturiert in ihren Programmpapieren die deutliche Präferenz für die Schiene im Verkehrskapitel deutlich machten – allerdings verbal weitestgehend durch personenverkehrsbezogene Aussagen. Das Verkehrskapitel im Koalitionsvertrag wurde durch die Ökopartei geprägt – viele überfällige und sinnvolle Maßnahmen zur Stärkung der Schiene wurden dort, auch ohne das Reizwort „Verkehrswende“ überhaupt niederzuschreiben, als Aufgaben der 20. Legislaturperiode formuliert.
Das ist auch dringend erforderlich, wenn die Koalition die Klimaschutzverpflichtungen, die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2021 deutlich verbindlicher für das Regierungshandeln gemacht wurden als durch die Mitzeichnung des Pariser Vertrages und die EU-Mechanismen, umsetzen möchte. Die Tatsache, dass der Güterverkehr bekanntlich der wesentliche Treiber bei den Treibhausgasemissionen und schon heute für nahezu ein Drittel der verkehrsbedingten Emissionen verantwortlich ist, spiegelt sich im Koalitionsvertrag jedoch kaum wider. Während mit 15 Millionen E-Pkw im Jahr 2030 eine der wenigen Zielkennzahlen im Vertrag genannt ist, gibt es für den Straßengüterverkehr nur allgemeine Aussagen. Der wächst pro Jahr um 2 bis 4 Prozentpunkte – ebenso wie die Emissionen, weil dieselfreie Lkw-Antriebe bisher im Markt praktisch nicht verfügbar sind. Die wenigen alltagstauglichen Elektroantriebe beschränken sich auf leichte oder Kurzstreckenfahrzeuge, die von der Administration Scheuer mit Milliardensubventionen in den Markt geschobenen gasbetriebenen schweren Lkw sparen kaum CO2 ein. Da ist es Pfeifen im Wald, wenn der neue Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck schreibt, im Jahr 2030 würden 30 Prozent der Lkw-Verkehrsleistung CO2-frei erbracht. Insbesondere im schweren Lkw-Verkehr ist schon die technologische Machbarkeit fragwürdig. Wie die Kostendifferenz zwischen Wasserstoff, Oberleitungs-Lkw oder gar aus erneuerbaren Energien hergestellten „synthetischen“ flüssigen Kraftstoffen und dem Diesel geschlossen werden soll – und das auch so, dass es auch die litauischen, bulgarischen oder weißrussischen Lkw-Flotten umfasst – bleibt im Vertrag offen. Zumal die neue Koalition auf Drängen mindestens der FDP einen der wichtigsten Hebel, mit dem die relative Wettbewerbsfähigkeit sowohl der Schiene als auch klimafreundlicherer
Lkw-Antriebe gegenüber dem Diesel verbessert werden könnte, nur mit spitzen Fingern angefasst hat. Den schon bestehenden europarechtlichen Spielraum, die Dieselprivilegierung bei der Besteuerung abzubauen, hat die Ampel verschmäht und verweist auf eine Weiterentwicklung der EU-Energiesteuerrichtlinie, allerdings ohne sich klar zum Subventionsabbau zu bekennen. Die vor allem im Herbst auf das Mehrfache angestiegenen Kosten für Bahnstrom verschärfen die Lage der elektromobilen klimafreundlichen Schiene zusätzlich und gefährden die Wende der Ampel, bevor sie überhaupt beginnen könnte. Aktuell wird selbst auf der Schiene Diesel als wirtschaftliche Alternative zur E-Traktion in Betracht gezogen. Bei den Rahmenbedingungen spielt also letztlich die Musik, wenn es um ein bekannt vorkommendes Ziel der Koalition für die Schiene geht. Bis 2030 soll der Marktanteil der Schiene am Güterverkehr auf 25 Prozent steigen, also Verkehr verlagert werden. In der Corona-Krise war er um etwa einen Prozentpunkt auf 18 Prozent gefallen. Die Ampel hat im Koalitionsvertrag abgesehen von einigen Leerstellen – etwa bei der Lkw-Maut auf allen Straßen, dem Infrastrukturfonds – nun immerhin die richtigen Instrumente benannt, um auf der Schiene voranzukommen: Infrastrukturausbau, Innovationsförderung und auch eine Änderung des gravierenden Webfehlers der Bahnreform bei der Schieneninfrastruktur. Die – und nicht wie bei der Vorgängerregierung europarechtswidrig geplant der gesamte Konzern – soll künftig gemeinwohlorientiert betrieben werden. Die gravierenden und wachstumshemmenden Defizite bei der Schieneninfrastruktur erkennt die Ampel, wenn sie unter anderem ein Programm „Schnelle Kapazitätserweiterung“, europarechtskonforme Planungsbeschleunigung vor allem bei einigen konkret benannten Schienenprojekten und mehr Mittel für die Schiene als für die Straße ankündigt.
Vieles im Vertrag ist interpretationsbedürftig, etwa das Bekenntnis zu „einem Deutschlandtakt“ auf der Schiene. Der Güterverkehr war von der alten Regierung nur verbal als gleichberechtigt bezeichnet worden. Auch bei den Stichworten „Überprüfung des Bundesverkehrswegeplans“ und „Infrastrukturkonsens“ schimmern unterschiedliche Grundansätze durch. Die Umsetzung der Ziele ist also mit Risiken behaftet. Zuallererst das Risiko, dass große Ziele nur mit – zu – kleinen, aber übergroß dargestellten Maßnahmen oder unkonkreten Ankündigungen und Papieren „abgearbeitet“ werden. Ein Monitoring sieht der Vertrag nicht vor, das könnte eine Aufgabe der Opposition sowie der Verbände werden.
An zweiter Stelle steht die Frage, ob das bisherige Silodenken endet. Landauf, landab wurden Gewerbestrukturen geschaffen, die abseits der Schiene liegen – und Güterbahnanlagen in Wohngebiete verwandelt. Eine Systemdebatte über „Einzelwagenverkehr versus kombinierter Verkehr“ braucht niemand – wir brauchen sowohl als auch – und können es auch viel stärker mischen. Der Vertrag gibt das her. Allerdings müssen dazu Länder, Kommunen und das Gewerbe anders planen und bauen – der Koalitionsvertrag will dankenswerterweise mit einer Prüfpflicht für Schienenanschlüsse nachhelfen – und die Kombination Straße/Schienes soll angereizt werden. Dafür hatte die alte Regierung kein Konzept und ob es die neue entwickeln will, dazu trifft der Koalitionsvertrag keine genaue Aussage. Und dann muss der neue Verkehrsminister die Frage beantworten, ob er die Schienen- und Klimaziele erreichen will, während der Fernstraßenbau ungehemmt weitergeht und die Schiene bei Finanzierung, Planungskapazitäten und letztlich im Markt aussticht. Schon werden wieder die bekannten Warnungen laut, man dürfe die Verkehrsmittel nicht gegeneinander ausspielen. Richtiger wäre, das Verkehrsangebot wettbewerbsfreundlich, aber mit der Schiene als Rückgrat neu zu denken.
An dritter Stelle steht die Arbeitsgeschwindigkeit. Verkehrsminister Wissing und sein neuer Schienenbeauftragter Michael Theurer müssen in der noch nicht vorliegenden Umsetzungsplanung zeigen, wie die schienenfreundliche Priorität der Ampel konkret umgesetzt wird – auch unter der Prämisse der Schuldenbremse.
Quelle: derFahrgast 1/2022, Link