Sehr geehrte Damen und Herren,
bereits 1993 stellte GERMANWATCH e. V. fest, dass der Verkehr zum „größten Sorgenkind der Klimaschutzpolitik“ wird. Muss es nicht irritieren, dass die Sorgenkind-Metapher nach 30 Jahren immer noch ständig bemüht wird? Weil die Treibhausgasemissionen des Verkehrs immer stagnierten, 2022 sogar wieder anstiegen und heute noch 43 Prozent über dem gesetzlichen Maximalwert für 2030 liegen.
Wir appellieren an Sie, sich in der aktuellen koalitionsinternen Kontroverse über den weiteren Neu- und Ausbau von Autobahnen auf die Seite der Zukunftsfähigkeit zu schlagen. Geben Sie den Menschen, Unternehmen, Ländern und Kommunen und unseren europäischen Nachbar:innen ein deutliches Signal, dass Deutschland klimafreundliche und energieeffiziente Verkehrsmittel priorisiert – auch und gerade im dynamischen Güterverkehr, der für ein Drittel der Emissionen verantwortlich ist.
Klimaverträglicher Transport von Menschen und Gütern benötigt nach Jahrzehnten des bevorzugten Ausbaus des Straßennetzes vor allem ein Nachholprogramm beim Ausbau der Schieneninfrastruktur. Bund und DB haben trotz und seit der 1993 beschlossenen Bahnreform kaum neue Schienenstrecken in Betrieb genommen. In jedem Jahr werden seit langem in Deutschland fünf Mal so viele neue Straßen gebaut, wie in knapp 30 Jahren zusammen neue Schienen in Betrieb gingen.
Der weitere und beschleunigte Ausbau des Straßennetzes würde die Treibhausgasemissionen aus dem Straßenverkehr auch weiter ansteigen lassen. Es ist an der Zeit, die begrenzten Ressourcen auf den Neu- und Ausbau und die entschlossene Sanierung bestehender Eisenbahngleise und Zugangsstellen wie Bahnhöfe und Verladestellen zu konzentrieren. Wir wissen die Mehrheit in Deutschland hinter uns: in einer aktuellen Umfrage bejaht eine deutliche Mehrheit den vorrangigen Ausbau der Schiene vor der Straßeninfrastruktur (s. hier).
Im Koalitionsvertrag der Ampel wurden zu diesen Themen genaue Angaben gemacht. Während generell eine Halbierung der Verfahrensdauer angestrebt wird, steht die Frage des künftigen Autobahnneu und -ausbaus im Vertrag unter dem Vorbehalt der Bedarfsplanüberprüfung samt „Dialogprozess“ (beides noch laufend) und „gemeinsamer Abstimmung über die laufenden Projekte“. Sofort sollen dagegen „systemrelevante Bahnstrecken, Stromtrassen und Ingenieursbauwerke (z. B. kritische Brücken)“ beschleunigt auf den Weg gebracht und mit hoher politischer Priorität umgesetzt werden.
Die Beschleunigungskommission Schiene hat im Dezember 70 Vorschläge unterbreitet, mit denen der Umsetzungsstau in der Schienenpolitik beendet werden kann. 100 Tage nach der Übergabe der Vorschläge an den Bundesverkehrsminister fragen sich Branche und Öffentlichkeit, ob der politische Wille zur Beschleunigung der Schienenplanung wirklich existiert, denn passiert ist seither nichts.
Stattdessen hat der Bundesverkehrsminister in aller Eile Aussagen einer noch von seinem Amtsvorgänger beauftragten „Langzeit-Verkehrsprognose“ veröffentlicht und sich zu eigen gemacht. Darin werden politische Verlagerungsziele ebenso wie die gesetzlichen Klimaziele nicht erwähnt. Die „Gering-Schätzung“ des Schienenwachstums hat in der Branche ungläubiges Kopfschütteln auslöst. Wir bekräftigen dagegen die Machbarkeit der Wachstumsziele des Koalitionsvertrages für die Schiene.
Wir vermuten, dass die „Fortschritts- und Aufbruchskoalition“ überwiegend davon ausgeht, dass sie Politik gestalten kann und auch die Anteile von Straße, Schiene und Wasserweg sich nicht alternativlos ergeben. Die Schiene als Rückgrat moderner intermodaler Logistik leistet einen unverzichtbaren Beitrag zur Einhaltung der Klimaziele. Der Koalitionsausschuss sollte den Weg dorthin freimachen, damit nicht auch noch die Enkel der 1993 Geborenen die Metapher vom Verkehr als ewiges Klimasorgenkind kennenlernen.
Mit freundlichen Grüßen
Ludolf Kerkeling, Vorstandsvorsitzender
Peter Westenberger, Geschäftsführer
Pressesprecherin
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